Aufgepfropft

Artist in Lab

Ein Stipendium der Kunststiftung Sachsen-Anhalt in Zusammenarbeit mit dem
Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben

Kooperationen mit völlig anderen Partnern einzugehen, Eindrücke und Erkenntnisse außerhalb der eigenen Disziplin zu sammeln, sich immer wieder ins Unmögliche hinauszuwagen, um im Grenzbereich des Machbaren das Unerwartete zu bergen, diese Herangehensweise ist charakteristisch für die meist konzeptionell angelegten Werke Marie-Luise Meyers. Auch in ihrer Arbeit „Aufgepfropft“ laboriert sie an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft. Als „Artist-In-Lab“-Stipendiatin der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt verbrachte sie 2007 drei Monate am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben. Der Gang durch die Kühlräume der Genbank, wo sich in endlosen Regalreihen Einweckgläser mit Tausenden von Pflanzenmustern stapeln, das umfangreiche Herbarium sowie die Samen- und Fruchtsammlung, vor allem aber der Blick durch das Mikroskop ließen die Künstlerin eintauchen in eine fast surreal anmutende Welt der Formen, Strukturen und Farben. Gibt es etwas, das die Natur nicht schon hervorgebracht hätte? Mit den ihr eigenen Forschungsmitteln beginnt Marie-Luise Meyer da, wo Natur und Wissenschaft Grenzen gesetzt sind und erschafft ein phantasmatisches Biotop jenseits der sichtbaren Wirklichkeit.
Der Laborplatz der Künstlerin gleicht einem Seziertisch: Pflanzen werden in Grundformen zerlegt, aufgeschnitten und in ihren Einzelheiten betrachtet. Nach Formtypen und ornamentaler Struktur sortiert, liegen biomorphe Module bereit, um nach dem Baukastenprinzip zu neuen Hybridgebilden zusammengefügt zu werden. Überbordende Ordnung: Die Versuchsanordnung erinnert in Ausschnitten an Blumenstilleben des 17. Jahrhunderts, dann wieder an biologische Schautafeln und Pflanzenmodelle. Aber in ein klares Schema will hier so recht nichts passen: Alles scheint in Metamorphose begriffen. Wie schillernder Urschlamm für Zukunftsutopien glänzt die Nährlösung in den Petrischalen. Staubblätter und Stempel winden sich auf den Platten gleich zappelndem Gewürm. Sonderbaren Früchten und Samen fehlt nur ein Geringes zum Eintritt in eine andere Daseinsform und Blätter von wabernder Gestalt erkunden das Territorium. Pollenkörner türmen sich auf zu einem klebrig-bunten Berg als wären es aufgeweichte Liebesperlen, mutierte Zellkulturen explodieren wie Poppkorn, daneben Griffel vom Ausmaß eines Unterschenkelknochens. Abseits des Karussells verwandelt sich eine Pipette in ein vegetabiles Gebilde, und selbst das Waschbecken krümmt sich amöbenhaft. In der Mitte, prächtig und fremdartig zugleich, eine noch unvollendete Blütenpflanze mit Fruchtknoten im Längsschnitt. Wie in arglosen Tagen der Kindheit hat Marie-Luise Meyer einen Turm gebaut, ohne einen eventuellen Einsturz bedenken zu müssen – alles ist machbar: Ein schöner wie erschreckender Traum eines jeden Künstlers und Wissenschaftlers.
Susanne Längle, Wien 2008

 

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