Es ist angerichtet

Das Oszillieren zwischen den Realitäten, das Gebilde hervorbringt von hohem Assoziationswert und geringer Konkretion, lockt den Betrachter zu kreativer Eigenleistung: Marie-Luise Meyer liefert keine Abbilder, sondern Ähnlichkeiten. Und selbst diese sind Chimären, die sich auflösen, wenn man sich ihnen nähert. Nichts ist wie es scheint, alles ist Vieles. Dies gilt auch für die Werkgruppe „Es ist angerichtet“, die aus zubereiteten Platten und Tellern besteht und seit 2006 zu einem stattlichen Bankett angewachsen ist. Die Tafelaufsätze erinnern an höfische Schaugerichte des Barock und Rokoko, an so genannte Trompe l’oeil-Fayencen, Teller und Schalen belegt mit naturalistisch geformten und staffierten Gemüsen oder Früchten, die sich um 1750 großer Beliebtheit erfreuten. Mancher Gast, der begierig nach den dargebotenen Köstlichkeiten griff, zog unter allgemeiner Erheiterung irritiert und verlegen seine Hand zurück.
In ihrer handwerklichen Perfektion, der Liebe fürs Detail und dem phantasievollen Arrangement sind Marie-Luise Meyers Speisen Referenzen an diese historischen Vorbilder. Täuschungen sind sie gleich im doppelten Sinne: Nicht nur, dass wir ein „falsches“ für ein „echtes“ Gericht halten. Auch das vermeintlich Essbare täuscht nur vor, ein Nahrungsmittel zu sein. Auf dem Gemüseteller findet sich kein Gemüse, was auf der Schlachtplatte liegt, möchte man gar nicht so genau wissen, die Ingredienzien der Pasteten sind nicht weniger zweifelhaft, und der Nachtisch – auch der ein Trugbild, leider. „Es ist angerichtet“ ist kein Versprechen lukullischen Genusses. Mit seinen reduzierten Formen und verhaltenen Farben, die interpretatorischen Spielraum lassen, sind Marie-Luise Meyers Gerichte eher Appetizer für eine gedankliche Auseinandersetzung darüber, was uns kulturell als Essen widerfährt und darüber, was dem Essen selbst widerfahren ist. Wie verändert Food-Design unsere Nahrungsmittel, was richtet Genmanipulation auf unseren Tellern an? Das Schauspiel der Speisen irritiert auch heute, wenn auch auf gänzlich andere Weise.
Marie-Luise Meyers Arbeiten können als Kommentare zu aktuellen Themen gelesen werden. Vor allem aber sind ihre eigenartig verfremdeten und zugleich spielerisch anmutenden Formgebilde selbstwertige künstlerische Aussagen, die zwar auf die Welt zugreifen, aber dennoch autonome Bedeutungsträger bleiben – verpflichtet allein dem mannigfaltigen Formwillen der Künstlerin, der staunen macht und begeistert.
Susanne Längle, Wien 2008

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