Ein zerbrechlicher Augenschmaus

VON ANDREAS HILLGER, 04.12.09,HALLE/MZ.

Es ist ein in die Senkrechte gekipptes Labyrinth, ein Rätselbau mit seltsamen Zimmern und vollgestopften Kammern, bizarren organischen Wucherungen und absonderlichen Apparaten. Zwischen den Stockwerken führen Leitern aus dunklem Ton in die Höhe und Tiefe, im Keller lagert der Unrat - und unter dem Dach, wo sonst die Tauben flattern, laufen Wildschweine. Man muss schon eine Leiter besteigen, um Marie-Luise Meyers Puppen-Hochhaus in seiner ganzen Fülle und Schönheit bestaunen zu können - und wird dafür belohnt mit Entdeckungen, die immer auch für Irritation sorgen. Denn selbst der Hochstand für den Betrachter taucht als Miniatur auf dem Gipfel der Skulptur noch einmal auf, das Werk zitiert und absorbiert seine Umgebung.

Das Holzgebäude mit dem keramischen Interieur, das man derzeit in der Neuen Residenz betrachten kann, ist das jüngste Werk der jüngsten Kunst-Preisträgerin in Sachsen-Anhalt. Marie-Luise Meyer, der die Auszeichnung heute im Landeskunstmuseum Moritzburg verliehen wird, steht stellvertretend für die große keramische Tradition der halleschen Kunsthochschule - und ist in ihrer Arbeit doch unverwechselbar originell. Die Künstlerin, die 1970 in Haselünne im Emsland geboren wurde und nach einer Töpferlehre von 1993 bis 1999 bei Antje Scharfe an der Burg Giebichenstein studierte, variiert und verzahnt ihre Themen virtuos - so etwa ihre im Rahmen eines "Artist in Lab"-Stipendiums in Gatersleben entstandenen Nachformungen von Pflanzenteilen und Laborgeräten, die sie im vergangenen Jahr bei der Kunststiftungs-Ausstellung "48 Karat" zeigte und die nun in Form einer "Erbsenzählmaschine" auch Eingang in ihr Puppenhaus gefunden haben.

Diese ungemein aufwendigen Arbeiten formulieren zudem einen Widerspruch gegen die landläufige Wahrnehmung der Keramik als bloßes Kunsthandwerk, bei dem bevorzugt zweckgebundene Gefäße entstehen. Marie-Luise Meyer, die zu den Initiatoren des Forums für zeitgenössische Keramik in Halle gehört, nennt diese leicht despektierliche Sichtweise ihres Metiers ein typisch deutsches Phänomen. In Frankreich beispielsweise, so sagt sie, sei die Keramik den anderen Künsten selbstverständlich gleichberechtigt.

Dass ihre Kreationen beredte Argumente für eine solche Emanzipation liefern, würdigt nun der Kunstpreis des Landes - der Marie-Luise Meyer in eine illustre Riege von Kollegen wie Christine und Helmut Brade, Ludwig Ehrler, Gertraud und Otto Möhwald, Olaf Wegewitz und Irmtraud Ohme einreiht. Dass sie just zu diesem Zeitpunkt eine Einzelausstellung im Keramik-Forum zeigen kann, ist ein erfreulicher Effekt, aber keine beabsichtigte Korrespondenz. Neben ihrem Puppenhaus ist dort auch eine zweite raumgreifende Inszenierung zu besichtigen, die das Spiel der Künstlerin mit kulturhistorischen Vorbildern zeigt. Auf einer langen Tafel finden sich jene Platten und Etageren, die sie zwischen 2006 und 2008 zu einem skurrilen Festmahl versammelt hat - mit obskuren Gerichten wie "Marzipan unter Schwarzen Nudeln", "Blutkuchen", "Hackbraten mit Haube" oder "Radieschen Helene". (...)

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